11.1.06

Jedem seine Susanne Osthoff

BILD, STERN, Beckmann, DIE ZEIT – alle haben sich ihr Bild gemacht von Susanne Osthoff, dem ersten deutschen Entführungsopfer im Irak. Eine eigenwillige und eigensinnige Persönlichkeit, eine zum Islam konvertierte Deutsche, Archäologin, alleinerziehende Mutter, Organisatorin von humanitärer Hilfe im Irak und so weiter und so fort. Aus diesen Puzzle-Stücken hat sich jeder sein Bild zusammengesetzt. Die Ergebnisse sind so unterschiedlich wie diejenigen, die sich an dieses Puzzle gewagt haben – ob Fernsehzuschauer, Zeitungsleser oder die Medien selbst. Der Journalist Harald Martenstein hat dieses Verhaltensmuster näher untersucht mit einer bemerkenswerten selbstkritischen Distanz. Seinen Artikel mit dem Titel "Jeder ist eine Geisel" hat er heute im Berliner Tagesspiegel veröffentlicht. Nachfolgend zwei Auszüge:

Susanne Osthoff war für uns alle da. Einige Wochen lang ist sie die ideelle Gesamtkronzeugin für fast jede denkbare Geisteshaltung gewesen. Im Fall Osthoff mussten wir wochenlang ohne Fakten auskommen, aber das hat uns nicht wirklich gestört. Wir sind eben, seit ein paar Jahren, keine Überbringer von Nachrichten mehr, wir verkaufen Emotionen, erzählen Geschichten, entwerfen Weltbilder, wir suchen nicht Distanz, sondern Nähe, wir vermengen das, was in den Zeitungen früher voneinander getrennt wurde, wir machen es inzwischen fast alle so ähnlich wie „Bild“. Jede Geisel muss für eine runde Geschichte stehen, ihr Schicksal muss eine Botschaft enthalten, sie darf nicht einfach nach Hause gehen, erleichtert sein und schweigen. Wer schweigt, macht sich verdächtig.(...)

Der Wert des Rohstoffs Gefühl ist stark gestiegen, wie der Ölpreis. Durch die Emotionalisierung der Medien ist jeder Einzelne zur potentiellen Geisel geworden. Morgen könnten Beckmann oder der „Bild“-Chefredakteur selber an der Reihe sein. Wie stehen Sie zu Ihrer Mutter, Herr Beckmann? So gerecht ist das System schon. Wenn übrigens ich in dieser ersten Zeit einen Susanne-Osthoff-Artikel hätte schreiben müssen, dann hätte ich es genauso gemacht. Auch ich hätte meine ganz persönliche Susanne Osthoff gefunden, die zu mir passt.

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